Die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) war zu Beginn der Coronakrise nur teilweise angemessen, hat sich in der Folge aber verbessert. Das BAG verfügte über das benötigte Fachwissen, auch wenn es nicht proaktiv ein wissenschaftliches Netzwerk aufbaute. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren in den Entscheidungsgrundlagen nicht immer transparent dargelegt und wurden in der Kommunikation des BAG insgesamt nur wenig eingesetzt.
Im Rahmen ihrer Inspektion über den Umgang der Schweizer Behörden mit der Coronakrise beauftragten die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte (GPK) die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) im Januar 2021 mit einer Evaluation zur Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch das BAG in der Coronakrise.
Die zuständige Subkommission EDI/UVEK der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) beschloss im April 2021, dass im Mittelpunkt der Evaluation die rechtlichen und strategischen Grundlagen, die Verarbeitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das neue Coronavirus sowie die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse in den Entscheidungsgrundlagen des Bundesrates und in der öffentlichen Kommunikation stehen sollten. Die Evaluation hatte hingegen nicht zum Ziel, die Zweckmässigkeit der Behördenentscheide zu prüfen, die das Ergebnis einer Interessenabwägung sind, bei der neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen auch andere Erwägungen eine Rolle spielen.
Die PVK untersuchte fünf Massnahmen aus der Anfangszeit der Coronakrise (Anfang 2020 bis Ende März 2021), mit denen die Übertragung des Virus eingedämmt werden sollte (Maskenpflicht und verschiedene Beschränkungen), um herauszufinden, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt wurden. Sie rekonstruierte mit der Unterstützung eines Epidemiologen, welche Erkenntnisse zu welchem Zeitpunkt verfügbar waren. Zudem prüfte sie Verwaltungsunterlagen und führte Interviews mit rund 30 Personen, namentlich aus dem BAG und der Wissenschaft. Die Inhaltsanalyse der öffentlichen Kommunikation gab die PVK extern in Auftrag. Die Evaluation kommt zu den nachfolgenden Hauptergebnissen:
Die Art des Einbezugs der Wissenschaft war wenig vordefiniert und das Wissenschaftsnetzwerk hat sich selbst organisiert
In den rechtlichen Grundlagen zum Umgang mit Epidemien heisst es, dass sich dieser auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen muss, doch bleibt in den strategischen Grundlagen sehr vage, wie der Einbezug der Wissenschaftskreise zu erfolgen hat (Ziff. 3.1). Die Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) war zu Krisenbeginn das einzige bereits vorhandene Gremium in diesem Themenbereich, doch wurde es – entgegen dem, was in seiner Einsetzungsverfügung steht – nicht einberufen (Ziff. 3.2). Das BAG baute sein Wissenschaftsnetzwerk nicht proaktiv auf, sondern die Kontakte entstanden auf Initiative von Personen aus der Wissenschaft wie der «Swiss National COVID-19 Science Task Force» (SN-STF) (Ziff. 3.3, 4.3). Die Tatsache, dass es keine vordefinierten Verfahren für die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Wissenschaft gab, hatte zur Folge, dass diese stark von den einzelnen Personen auf beiden Seiten abhing (Ziff. 4.3).
Das BAG verbesserte die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Laufe der Krise
Es ist bezeichnend für Krisen, dass sie die üblichen Strukturen auf die Probe stellen. Die Verfügbarkeit und Flexibilität der Personen, sowohl innerhalb der Verwaltung wie auch aus der Wissenschaft, sowie deren Einsatz bei der Bewältigung der Pandemie wurden allseits anerkannt (Ziff. 4.3). Die PVK hält fest, dass sich die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Laufe der Krise in vielerlei Hinsicht verbessert hat, sowohl was die Zusammenarbeit zwischen dem BAG und der Wissenschaft (Ziff. 4.3) als auch die öffentliche Kommunikation angeht (Ziff. 6.3).
Die Wissenschaft wurde über verschiedene Kanäle einbezogen und teilweise kam es zu Doppelspurigkeiten
Das BAG hatte über zahlreiche Kanäle Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, wobei es keine genauen Kriterien gab, nach welchen die relevanten Erkenntnisse ausgewählt wurden (Ziff. 4.1). Es kam ausserdem zu gewissen Doppelspurigkeiten bei den Anfragen, die das BAG an die wissenschaftlichen Akteure richtete (Ziff. 4.2). Die Rolle dieser Akteure hat das Amt erst nach und nach präzisiert (Ziff. 3.3). Indem die SN-STF je länger desto weniger Empfehlungen aussprach, sondern vermehrt lediglich eine Einschätzung der epidemiologischen Lage und Entwicklungen abgab, verschwamm deren Rolle zunehmend mit jener anderer wissenschaftlicher Akteure (Ziff. 4.3).
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren nicht immer transparent in den Entscheidungsgrundlagen dargelegt
Die Dokumente zuhanden des Bundesrates wurden in enger Zusammenarbeit des BAG und des Generalsekretariats des Eidgenössischen Departements des Innern (GS-EDI) erstellt, die dabei unter grossem Zeitdruck standen. Die Dokumente enthielten zwar viele Fakten zur Entwicklung der epidemiologischen Lage in der Schweiz, die wissenschaftlichen Grundlagen an sich waren allerdings nicht immer transparent dargelegt (Ziff. 5.1). So wurden im Frühjahr 2020 die verschiedenen Ansichten zum Maskentragen nicht ausdrücklich aufgeführt (Ziff. 5.2) und die neuen Erkenntnisse zur Virusübertragung durch Aerosole kaum verwertet (Ziff. 5.3). Dies verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit einer raschen politischen Reaktion und der Berücksichtigung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche noch mit gewissen Unsicherheiten behaftet sind.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden in der öffentlichen Kommunikation, namentlich jener des BAG, nur wenig eingesetzt
Die extern in Auftrag gegebene Analyse der Medienkonferenzen und -dossiers zeigt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der öffentlichen Kommunikation nur wenig eingesetzt wurden. Dabei hat die Mehrheit der Personen, welche die PVK interviewt hat, betont, dass es wichtig sei, transparent zu informieren und die Grundlagen, auf welchen die Massnahmen beschlossen wurden, darzulegen. Die SN-STF verwies bei ihrer Kommunikation – entsprechend ihrem Auftrag als wissenschaftliches Beratungsgremium – stets auf die wissenschaftlichen Grundlagen. Das BAG tat dies bei seinen Äusserungen hingegen nur selten, obwohl es für die Kommunikation der fachlichen und wissenschaftlichen Aspekte zuständig ist (Ziff. 6.1, 6.3). So hat es beispielsweise den Kenntnisstand zum Maskentragen nicht proaktiv kommuniziert, obwohl das Amt seine diesbezügliche Position stark verändert hat (Ziff. 6.2). Die befragten Personen bezeichneten die Verteilung der Kommunikationsaufgaben innerhalb der Bundesverwaltung zwar als eindeutig, allerdings spiegelte sich dies nicht unbedingt in der Praxis wider. Die Koordination zwischen der Bundesverwaltung und der SN-STF war, namentlich was die Inhalte der öffentlichen Kommunikation betraf, schwierig (Ziff. 6.3).