Einleitung
Bis vor kurzer Zeit wurde die Erdbebeneinwirkung in der Schweiz stark unterschätzt. Erste Normenvorschriften bezüglich Erdbeben, die jedoch aus späterer Sicht völlig ungenügend waren, wurden 1970 eingeführt. Die Fassung von 1989 der Norm SIA 160 stellte einen wesentlichen Fortschritt dar, aber sie entsprach dem Wissensstand der frühen 80er-Jahre. Die seit Januar 2003 gültige Norm SIA 261 basiert auf den neuesten Forschungsergebnissen und schreibt für Neubauten die Annahme von wesentlich höheren Erdbebeneinwirkungen vor als bisher und ist nach Ablauf der Übergangsfrist ab Mitte 2004 zwingend anzuwenden.
Gemäss dem Bundesamt für Strassen (ASTRA) stellt das Schweizerische Strassennetz eine Investition von vielen Milliarden Schweizer Franken dar. Nur rund 10% der bestehenden Brücken dieses Strassennetzes sind nach aus heutiger Sicht modernen Erdbebennormen seit 1989 gebaut worden. Die restlichen 90% der Brücken wurden somit gar nicht oder nur nach veralteten Regeln für Erdbeben bemessen und besitzen deshalb eine nicht näher bekannte Erdbebensicherheit. Das mögliche Schadensausmass während eines Erdbebens ist deshalb noch unbekannt.
Um dieser Situation gerecht zu werden hat das ASTRA ein zweistufiges Beurteilungsverfahren der Erdbebensicherheit bestehender Brücken entwickelt. In der ersten Phase (Stufe 1) werden alle Brücke beurteilt und diejenigen, die das Potential für eine übermässige Verletzbarkeit aufweisen, identifiziert. Anschliessend sollen diese Brücken im Rahmen einer zweiten Phase (Stufe 2) vertieft analysiert werden
Die Bedeutung der Verkehrswege nach einem Erdbeben kann sehr unterschiedlich sein. Einige Verkehrswege, die sogenannten Lifelines, sollen nach einem Erdbeben ihre uneingeschränkte Gebrauchstauglichkeit aufweisen, sodass die Zugänglichkeit des Erdbebengebiets zwecks Rettung, Bergung, Räumung und unmittelbarem Wiederaufbau gewährleistet ist. Andere Verkehrswege dürfen hingegen während eines Erdbebens starke Schäden erfahren, aber nicht einstürzen. Im ersten Fall werden strenge Anforderungen gestellt. Unter Berücksichtung der mässigen Seismizität in der Schweiz, sollte aber deren Einhaltung bei Neubaten mit eher niedrigen Kosten verbunden sein. Bei bestehenden Brücken könnten hingegen gegebenfalls grosse Kosten entstehen. Die Anforderungen im Bezug auf Erdbebenverhalten für nicht-Lifeline Bauten sind viel lockerer und deren Einhaltung ist typischerweise mit geringeren Kosten verbunden. Die Identifizierung der Lifelines im schweizerischen Strassennetz ist eine politische Aufgabe und stellt den ersten wesentlichen Schritt bei der Beurteilung der Erdbebensicherheit bestehender Brücken dar. Diese Aufgabe wird bei den Kantonen wahrgenommen und die Identifizierung geschieht in Absprache mit dem ASTRA.
Aufgabe des Erdbebeningenieurwesens ist nicht nur “erdbebensichere” sondern auch “erdbebengerechte” Tragwerke sicherzustellen. Dabei soll neben der Einsturzsicherheit auch die Verletzbarkeit des Tragwerks berücksichtigt werden. Die Verletzbarkeit ist als Beziehung zwischen Erdbebenstärke und auftretenden Schäden definiert. Heute sind Bauwerke, Einrichtungen und Betriebsunterbrüche so kostspielig, dass schon bei der Bemessung aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen zu entscheiden ist, bei welcher Einwirkungsgrösse welcher Schadensgrad zugelassen wird. Die Verwirklichung von diesen beiden Zielen bei erdbebengerechten Bauwerken, nämlich Einsturz verhindern und Schäden begrenzen, ist heute als “Performance Based Design” oder - als ad hoc Übersetzung - als “Verhaltensbasierter Entwurf” bekannt.
Problemstellung
In der Einleitung wurde festgestellt, dass die Erdbebensicherheit der Mehrheit der Brücken des schweizerischen Strassennetzes unbekannt ist, weil sie vor 1989 nach veralteten Normen gebaut worden sind. Anhand von einfachen Überlegungen wird im Folgenden versucht, die Situation bei den Balkenbrücken grob abzuschätzen. Die Beschränkung auf Balkenbrücken erfolgt deshalb, weil sie die am meisten verbreitete Brückenart sind und weil sie ein Erdbebenverhalten aufweisen, das einigermassen einfach zu erfassen ist. Schäden an Balkenbrücken können wie folgt unterschieden werden:
- Absturz des Brückenträgers
- Schäden an Lagern
- Schäden an Widerlagern
- Schäden an Brückenstützen
Während zur Abschätzung der Schäden des Typs 1 und 2 sehr gute Grundlagen bereits vorhanden sind, fehlen entsprechende Angaben zu den Schäden des Typs 4, die bei schweizerischen Verhältnissen auftreten können. Schäden an Stützen entstehen typischerweise dann, wenn die Balkenbrücke schwimmend gelagert ist, oder wenn bei einer festen Lagerung die oft für Erdbeben unterbemessenen Lagern versagen. Im ersten Fall sind die Erbebenkräfte fast immer für die Bemessung der Stützen in Brückenlängsrichtung massgebend. Im zweiten Fall wird das statische System der Brücke komplet geändert und vor allem die Stabilität der Stützen könnte gefährdet sein.
Es ist bekannt, dass Stahlbetonbauteile normalerweise eine gewisse “natürliche Duktilität” besitzen, auch wenn keine speziellen duktilitätsfördernden Massnahmen getroffen worden sind. Das bedeutet, dass solche Bauteile gewisse zyklisch-plastische Verformungen mitmachen können, ohne dabei zu versagen.
Wenn ein gewisses Verformungsvermögen der Bauteile zuverlässig angenommen werden kann, ist die Anwendung moderner verformungsorientierter oder verformungsbasierter Berechnungsverfahren besonders sinnvoll, da bei der in der Schweiz vorherrschenden mässigen Seismizität nur relativ kleine spektrale Verschiebungen zu erwarten sind. Bei diesen Berechnungsverfahren werden anstelle der Erdbebenersatzkräfte die Verformungen infolge Erdbebeneinwirkung betrachtet. Unter möglichst genauer Berücksichtigung des Verformungsverhaltens des Tragwerks kann so die komplexe nichtlineare dynamische Antwort infolge Erdbebeneinwirkung wirklichkeitsnah erfasst werden.
Es ist zu erwarten, dass das aufwendigere verformungsbasierte Berechnungsverfahren in vielen Fällen zu einer günstigeren Beurteilung der Erdbebensicherheit eines bestehenden Tragwerks führen wird und, dass damit für die grosse Mehrheit der Balkenbrücken in der Schweiz eine ausreichende Erdbebensicherheit ohne bauliche Verstärkung nachgewiesen werden kann.
Forschungsbedürfnisse
Zur verformungsbasierten Überprüfung von Balkenbrücken fehlen heute folgende Grundlagen:
- Es wurden noch praktisch keine bestehenden Brücken für die neue Erdbebeneinwirkung nach der Norm SIA261 überprüft. Es fehlt somit eine Grössenordnung für die seismische Beanspruchung der verschiedenen Brückenbauteile.
- Das Verformungsvermögen von konventionell bemessenen Tragwerken ist von den konstruktiven Details und den Materialeigenschaften der Bauteile abhängig. Diese variieren von Land zu Land und Angaben über das Verformungsvermögen von konventionell bemessenen Schweizer Stahlbetonbrückenstützen fehlen.
- Es fehlen Angaben über die Verletzbarkeit von Schweizer Balkenbrücken, um eine verhaltensbasierte Beurteilung durchzuführen. Die Verletzbarkeit setzt sich zusammen aus dem Erdbebenverhalten von Fundamenten, Stützen, Lagern, Auflagern, Gelenke, Überbau und aus der Interaktion dieser Bauteile untereinander.
- Es fehlen numerische Modelle zur Erfassung des dynamischen Verhaltens von Stahlbetonbalkenbrücken, die speziell auf in der Schweiz herrschende Verhältnisse kalibriert sind.